Die Dolmetscherin: Jelena Spanjol über „disruptive Innovation“

LMU-Forscherinnen und -Forscher erklären wissenschaftliche Begriffe allgemein verständlich.

Es gibt wissenschaftliche Begriffe, die es in die Alltagswelt geschafft haben. LMU-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären an dieser Stelle solche Ausdrücke – nicht nur mit einer reinen Definition, sondern auch mit einer kurzen Geschichte ihrer Popularität.

Illustration zum Thema disruptive Innovation
© Lisa Stanzel / LMU

Jelena Spanjol: „Die Weltlage ist derzeit reichlich unübersichtlich, die Zukunft der globalen Wirtschaft erscheint weithin offen. Da ist „Disruption“ ein Begriff der Stunde, er wird gerne und viel gebraucht, oft um größere Veränderungen und Umwälzungen in Märkten und Technologien allgemein zu beschreiben. Nur: In vielen Fällen passt er nicht, oder nur teilweise. In der Innovationsforschung wird das Label „disruptiv“ – manchmal wenig trennscharf – auf einschneidende Marktveränderungen durch technologische Neuerungen angewendet, anstatt einfach von radikaler Innovation, definiert durch den Markt- und Technologieneuheitsgrad, zu sprechen.

© LMU-SOM

Die Theorie stammt von dem Harvard-Wirtschaftswissenschaftler Clayton Christensen. Er beschrieb ursprünglich damit einen Prozess, mit dem eine neue Technologie den Markt erobert. Es mag sein, dass die Innovation zunächst als weniger leistungsstark (in den gängigen Dimensionen) erscheint als ihr etabliertes Pendant, dafür aber ist sie generell kostengünstiger. Mit der Zeit wird die neue Technologie zunehmend verbessert und kundenfreundlicher gemacht. Damit erobert sie am Markt immer mehr und neues Terrain, was die etablierten Anbieter in die Defensive bringt und in einen Nischenmarkt abdrängt oder gänzlich vom Markt verdrängt.

Christensen beschreibt also einen längerfristigen Prozess, bei dem viele Faktoren wie Ressourcen, Marktstrategien und Marktbedingungen eine Rolle spielen. Sein klassisches Beispiel einer disruptiven Innovation ist der Siegeszug des PC. Er hat ein ganz neues Segment und in der Folge einen Massenmarkt aufgemacht: für den Einzelnutzer. Zuvor gab es nur große teure Rechenmaschinen in Firmen oder Behörden.

Viele haben damals behauptet, dafür gebe es keinen Markt, niemand wolle so eine Kiste im Haus. Die Zeit hat gezeigt, wie falsch sie lagen. Und es zeigt sich aber auch, dass eine disruptive technologische Innovation erst im Nachhinein als solche zu erkennen ist, daher wird die Theorie weiterhin debattiert. Was die Forschung ebenso klar darlegt: Pioniere sind selten auch ultimative Marktgewinner bei radikal neuen Technologien und Produkten.

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Ein springender Punkt bei Christensens Prozess ist der Einstieg am unteren Marktende. Damit scheiden einige der Kandidaten aus, die heute als disruptive Innovation diskutiert werden: Die Plattform Uber hat den Taxi-Markt in manchen Ländern verändert, mag benutzerfreundlicher sein, ist aber nicht unbedingt preiswerter für die Kundin. Hier handelt es sich daher eher um eine Business Model Innovation.

Und das Smartphone? Es war sicherlich ein innovatives Produkt, aber um es als disruptive Technologie zu kategorisieren kommt es auf den Referenzpunkt an: Es war teurer als viele der bestehenden Mobiltelefonmodelle (zB „flip phones“). Wenn man aber bedenkt, dass wir damit heute einen kleinen Computer in der Tasche haben, mit dem wir längst nicht nur telefonieren können, dann fällt der Vergleich schon anders aus. Generell glaube ich, dass neue Technologien, die sich als disruptiv erweisen, oft im Hintergrund ablaufen. Sie transformieren Produktionsprozesse, machen sie deutlich effizienter, mit neuen Materialien, mit optimierten Supply Chains oder nachhaltigeren Lebenszyklen etwa.

Die Definition von Disruption im eigentlichen theoretischen Sinn ist also ziemlich spitz und beschreibt spezifische, langfristige Technologie- und Marktverläufe. Dass der Begriff dennoch so inflationär gebraucht wird, hat viel von einer Selbstzuschreibung von Unternehmen und Branchen, die damit ihren starken Einfluss auf das Marktgeschehen demonstrieren wollen. So gerät der Begriff Disruption zu einem Label, das Technologie- und Marktveränderungen generell beschreibt. Da gerät vieles leicht zum Synonym für eine Dynamik, die den Fortschritt treibt.“

Prof. Dr. Jelena Spanjol ist Direktorin des Instituts für Innovation Management an der LMU Munich School of Management.

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